Unsere Haltung zu Geisterspielen

Das Betteln und Flehen wurde also erhört. Die Funktionäre des deutschen Fußballs haben in den letzten Wochen ein Paradebeispiel für gute Lobbyarbeit gezeigt mit dem Ergebnis, dass die Bundesliga ab Mitte Mai ihren Spielbetrieb wieder aufnehmen darf. Bereits im April haben wir gemeinsam mit dem Großteil der Fanszenen in Deutschland unsere Ablehnung der Geisterspiele kundgetan. Nach wie vor lehnen wir die Austragung von Geisterspielen zu diesem Zeitpunkt ab. Um es vorweg zu nehmen: Wir sehen den Fußball als sozialen Begegnungsort und die Vereine als demokratisches Gerüst für Mitbestimmung und Engagement. Mit denen, die im Fußball lediglich ein Business und Produkt sehen und auf dessen Profitmaximierung versessen sind, können und wollen wir nicht in einem Boot sitzen.

Die Bundesliga wurde, wie das gesamte Land und die gesamte Welt, durch das Coronavirus getroffen und lahmgelegt. Dass der Profifußball in den letzten zwei Jahrzehnten eine vollkommen falsche und durch uns häufig kritisierte Richtung eingeschlagen hat, zeigte sich schnell. Es existiert kaum ein Wirtschaftszweig, der seinen Umsatz, seine Gewinne, seine gesamte Finanzstruktur derart steigern konnte und solch goldene Zeiten hinter sich hat wie der Profifußball. Immer neue Rekordablösesummen, immer höhere Spielergehälter, immer mehr interessierte Investoren verdeutlichen diese Entkoppelung zwischen dem Business Profifußball auf der einen Seite und der Basis der Vereine, den Fans und Mitgliedern, auf der anderen.

Dieser erfolgsverwöhnte Wirtschaftszweig sieht sich binnen weniger Wochen aufgrund der Gefahr einer ausbleibenden Tranche an TV-Geldern in seiner Existenz bedroht. Nachhaltig gewirtschaftet wurde trotz der ausdrücklichen Möglichkeit hierzu nicht. Keinerlei Rücklagen wurden geschaffen, da die kleineren Vereine jeden Cent direkt wieder ausgeben mussten, um im Kielwasser der großen Vereine hinterherschwimmen zu können. Diese großen Zugpferde sind die Profiteure des selbstgeschaffenen, elitären Systems im Fußball, zu dem beispielsweise die ungerechte Verteilung von Fernsehgeldern oder die finanzielle Dominanz durch regelmäßige Teilnahme an europäischen Wettbewerben beigetragen haben.

Dass Hertha BSC nicht akut von der Zahlungsunfähigkeit bedroht ist, beruhigt die Seele von Herthafans natürlich. Doch ist gerade der Umstand, dass unser Verein nur aufgrund des vor kurzem geschehenen Einstiegs eines dubiosen Investors über ausreichende Finanzmittel verfügt, einer unserer Hauptkritikpunkte. Es darf nicht sein, dass nur Vereine mit potenten Geldgebern im Hintergrund oder aufgrund einer jahrelangen sportlichen Dominanz auf finanziell sicheren Beinen stehen.

Die Grundlage für die Wiederaufnahme des Spielbetriebs ist das Hygiene-Konzept der DFL. Es sieht unter anderem vor, dass die Spieler sich von der Außenwelt abzuschotten haben, in Kleingruppen trainieren und systematisch getestet werden. Dass der Leak über die sozialen Netzwerke ausgerechnet bei Hertha BSC passieren musste, überraschte wohl kaum einen Herthaner, denn mit der zumeist peinlichen Außendarstellung unseres Vereins leben wir seit Langem. Das Video von Salomon Kalou zeigt, dass das Hygienekonzept der DFL offenkundig ignoriert wird von denen, die dieses Konzept eigentlich zu befolgen hätten. Handshake vom Fitnesstrainer, Handshakes von den Mitspielern, kein Abstand in der Kabine, ohne Schutzkleidung durchgeführte Corona-Tests, bei denen andere Spieler einfach ins Zimmer platzen. Die soziale Vorbildfunktion ist hier bereits gänzlich verloren. Während die Bevölkerung zum gleichen Zeitpunkt lediglich zu zweit zusammenkommen darf, ist es für Profifußballer unmöglich, sich an die Regeln ihrer ohnehin schon privilegierten Situation zu halten.

Gemäß des Hygienekonzepts werden die Profis in regelmäßigen Abständen systematisch getestet. Zu kaum einem Thema ist derart viel geschrieben worden. Bei kaum einem Thema dürften die Funktionäre eine derartige Angst vor ihrer Außendarstellung gehabt haben, denn auf allen Kanälen vermeldete die DFL gebetsmühlenartig: „Wir nehmen niemandem etwas weg!“. Es ist richtig, dass in Deutschland die Testkapazitäten in einer atemberaubenden Geschwindigkeit erhöht wurden. Der Profifußball beansprucht 25.000 Tests für sich, die er laut eigener Aussage niemandem wegnimmt. Doch wo wird systematisch getestet? In der Pflege, in Krankenhäusern, in Altenheimen, in Schulen? In keinem systemrelevanten Sektor, der unsere vorderste Front gegen das Virus ist und gleichzeitig seine Keimzelle sein kann, wird systematisch getestet.

Der Profifußball nimmt also nur deswegen niemandem einen Corona-Test weg, da andere Bereiche keinen Anspruch auf Tests zu haben scheinen. Der Fußball kann dank der Finanzspritze aus den TV-Geldern Corona-Tests kaufen, während der durch Steuergelder finanzierte und klamme Bildungsbereich sich dieses Privileg nicht erkaufen kann. Von Moral und Anstand kann bei diesem rücksichtslosen Verhalten der Ellenbogenbranche Fußball nicht gesprochen werden. Dabei haben die Funktionäre diese Werte doch erst vor zwei Monaten lauthals in jedes Mikrofon gepredigt, das Ihnen entgegengehalten wurde, als sich ein gewisser Milliardär auf den Schlips getreten fühlte.

Der sportliche Wettbewerb in den Bundesligen kann nicht mehr fair gestaltet werden, nachdem die Mannschaft von Dynamo Dresden vom Dresdener Gesundheitsamt in die häusliche Quarantäne geschickt wurde. Die Saison soll bis zum 30.6. zu Ende gespielt sein. Wie soll eine Mannschaft mit zwei Wochen Trainingsrückstand diesen Nachteil im Abstiegskampf ausgleichen können? Noch dazu werden die Sorgen von Spielern nicht ernst genommen. Die Profis finden sich in der Position wieder, sowohl Nutznießer des Systems als auch zu vernachlässigende Kollateralschäden auf dem Altar der Profitmaximierung zu sein. Denn bei weitem nicht alle Profis wollen sich und demnach auch ihre Familien dem Risiko der Infektion aussetzen, wenn sie für das Vergnügen von TV-Zuschauern und den Profit des Produkts Profifußball in engen Kontakt mit Mit- und Gegenspielern gezwungen werden.

Allen Beteiligten ist klar, wozu die Wiederaufnahme des Spielbetriebs führen wird. Natürlich werden wir Ultras keine Treffpunkte organisieren, natürlich raten wir von größeren Ansammlungen aufgrund der Spiele ab. Doch wir wissen, dass wir nur die Fans erreichen, die ins Stadion gehen. Es ist eine Illusion, dass die Übertragung von Fußballspielen im TV nicht zum gemeinschaftlichen Fußballgucken führen wird. Das Public Viewing ist wahrlich keine Erfindung der aktiven Fanszenen, doch zeigt eines: Ob in Kneipen, im privaten Rahmen oder anderswo, wo es die Möglichkeit geben wird, werden Menschen zusammenkommen und die Spiele gemeinsam verfolgen. Hieraus erwächst ein neues Risikopotenzial für eine erneut ansteigende Infektionskurve, die sich Verbände und Vereine anrechnen lassen dürfen.

In der Logik der totalen Profitmaximierung sind Geisterspiele unumgänglich, denn anders kann das Business nicht am Leben gehalten werden. Das Hygienekonzept konnte schnell erarbeitet werden. Es gibt allerdings trotz des Re-Starts kein Konzept für eine nachhaltige Entwicklung des Fußballs in Deutschland. Die Top-Vertreter des deutschen Fußballs üben sich öffentlich in Demut, doch solange hier kein verbindliches Konzept folgt, ist das Gerede so wertlos wie der für das Fernsehen gespielte Saisonabschluss. Wir haben schon häufig mit den Funktionären an einem Tisch gesessen und sprechen aus Erfahrung, wenn wir sagen, dass sich in Fanbelangen noch nie etwas ohne gesellschaftlichen Druck geändert hat. Vor allem wenn es um grundlegende Dinge, wie Gelderverteilung oder blindes Wachstumsstreben geht. Wir sind daher mehr als skeptisch, dass es elementare Änderungen zu mehr Nachhaltigkeit im deutschen Fußball geben wird. Sicher ist: Von selbst gibt es sie auf keinen Fall!

Wir Ultras werden trotzdem weiter für ebensolche strukturellen Veränderungen streiten. Die Krise kann und muss der Ausgangspunkt dafür sein, dass der Fußball sich auf seine Wurzeln besinnt und sich gesund schrumpft. Der Fußball braucht eine nachhaltige und gerechte Verteilung und gegebenenfalls Deckelung von Fernsehgeldern, ein klares Bekenntnis zur 50+1-Regel, eine Begrenzung von Spielergehältern, Transfersummen und Beraterhonoraren, eine Abkehr von der TV-gerechten Spieltagszerstückelung und von Spielen unter der Woche. Das „Höher, schneller, weiter“ muss der Vergangenheit angehören!

Harlekins Berlin `98 im Mai 2020